Project Solanum

Zuletzt aktualisiert / 17.05.2024
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World / Players / Hiwot
Veröffentlicht von / Benutzer / 05.02.2024
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Hiwot

Hiwot ist die Hauptprotagonistin im Film. Als Crop-Scientist versucht sie nicht weniger, als den drohenden Welthunger zu verhindern. Hiwot wird im Zentrum der Geschichte stehen, weshalb wir eine ausführliche Backstory für sie entwickelt haben. Welche Lebensabschnitte von Hiwot fehlen noch, um sie als Menschen greifbar zu machen? Und was denkst du, auf welcher Seite der Resolution 19 Debatte würdest du stehen? Teile es uns mit und werde Teil von Project Solanum!

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Mein Name ist Hiwot. Geboren bin ich am 28.7.2033 in Addis Abeba, Äthiopien. Heute bin ich 31 Jahre alt. Mein Name bedeutet «Leben» auf Amharisch, der Amtssprache Äthiopiens. Meine Mutter Manisha (ein Name aus dem Sanskrit, welcher «Weisheit» oder «Verlangen» bedeutet) und mein Vater Gaudens nannten mich meistens einfach «Hiwi». Die ersten Jahre meines Lebens verbrachte ich vollständig im Tragetuch meiner Mutter. Meine Eltern lebten damals nicht zusammen und meine Mutter dachte nicht daran, mit ihrer Arbeit aufzuhören. Also nahm sie mich einfach überall mit. Kein Wunder, lernte ich erst mit fast zwei Jahren zu laufen.

Meine Mutter arbeitete in den 2030er Jahren für das Ethiopian Biodiversity Institut, kurz EDI. Für das Institut reiste sie viel. Einerseits besuchte sie die Höfe im Land, mit welchen sie und das Institut zusammenarbeiteten, andererseits stellte sie ihre Arbeit an gentechnikfreien und Klima-angepassten Getreidesorten an Kongressen in aller Welt vor und kämpfte damit an vereinter Front mit anderen Initiativen, wie jene, von Vandana Shiva gegründete, indische Navdanya («Neun Samen»). Sie kämpften gegen die Rhetorik der multinationalen Saatgutkonzernen, welche die Meinung vertraten, dass nur mit ihren patentierten high-yield Varianten die Nahrungssicherheit gewährleistet werden könne.

Als meine Mutter an einer Ausgabe des World Biodiversity Forums in Davos die Arbeit des EDI vorstellte, lernte sie Gaudens, meinen Vater kennen. Als Rätoromane gehörte er auch so schon zu einer aussterbenden Art, doch als Polyglott in einer Zeit, in welcher alljährlich Dutzende Sprachen verschwanden, wirkte er manchmal wie ein Dinosaurier, erzählte mir meine Mutter einmal. Mein Vater spricht weit mehr als zwanzig Sprachen und arbeitete zu dieser Zeit als Übersetzer für das World Biodiversity Forum. Mein Vater ist ein Eigenbrötler, ein Studierter, ein Besserwisser. Aber, irgendwie, weiss er vieles auch wirklich besser. Es funkte zwischen ihnen, wie es halt eben zwischen Menschen funkt und schon bald war ich auf dem Weg. Ohne Wunsch, ohne Planung. Einfach so.

Mein Vater bemühte sich in der Folge immer wieder darum, einen Job in Addis Abeba zu finden, aber eigentlich wollte meine Mutter ihn gar nicht in ihrem Leben haben, jedenfalls nicht in der klassischen Form einer nuklearen Familie. Meine Mutter konnte meinem Vater nie etwas vormachen. Egal wie sehr sie versuchte, ihre Herkunft, ihre Kultur oder ihre Arbeit als einzigartig, speziell oder prioritär darzustellen, mein Vater blickte hindurch. Er akzeptierte schlussendlich, dass meine Mutter eine Fernbeziehung bevorzugte. Ich führte deshalb lange eine Beziehung am Bildschirm mit meinem Vater. Von ihm lernte ich Latein und Altgriechisch und er schickte mir Videos seiner Reisen in die weite Welt, die er als Übersetzer für die UNO unternahm.

Mit YD änderte sich alles. Vermutlich hat jeder Mensch auf der Erde seine oder ihre Geschichte zu YD. Meine geht so: Es war 2043, ich war zehn Jahre alt. Am Höhepunkt der Jahrtausenddürre brach die Unterstützung für das Ethiopian Biodiversity Institut komplett ein. Meine Mutter versuchte noch fast zwei Jahre lang die Arbeit aufrecht zu erhalten und ihr Erbe zu retten, doch die Wassernöte, die gigantischen Migrationsströme und nicht zuletzt der Eintritt der ALFA-Truppen («African Land for Africans») in Äthiopien und die damit verbundene heftige militärische Reaktion Chinas zum Schutz ihrer Infrastrukturprojekte, zerstörte den letzten Funken Hoffnung, dass die kleinbäuerliche, regionale Arbeitsweise in Äthiopien eine Zukunft hatte. Die Landwirt*innen sattelten in der Folge auf high-yield Varianten der Multis um und produzierten nicht mehr für den lokalen Markt, sondern für die Börse. Die letzte Bastion unabhängiger Agronom*innen in der Welt war gestürzt.

Meine Mutter hatte von einem Tag auf den anderen keine Arbeitsgrundlage mehr und das Leben in Addis Abeba wurde gefährlich. Auf dem Schulweg fiel ich einmal beinahe einem Scharmützel zwischen Rebellen und dem Militär zum Opfer. Einmal stellte ein Rebellenkonvoy mich «zu meinem Schutz» auf die Ladefläche eines Range Rovers und fuhr mit mir zwei Mal durch die ganze Stadt, bis sie mich am Abend wieder vor die Haustüre stellte. Ich war 13. Mein Vater wollte uns schon lange in die Schweiz holen, und ich wollte zu ihm. Endlich wieder richtiger Schulunterricht, einen zuverlässigen Strom- und Internetzugang, sich mit Jungs treffen; doch meine Mutter blieb stur. Irgendwann fing ich an, meiner Mutter vorzugaukeln, dass ich mich nicht mehr nach draussen wagte. Ich blieb im Bett, spielte zitternde Hände vor und lallte altgriechisch Wortfetzen. Ich weiss bis heute nicht, ob meine Mutter mir das Schauspiel abkaufte, oder ob meine Verzweiflung der ausschlaggebende Punkt war. Auf jeden Fall liess sie sich überreden, Äthiopien hinter sich zu lassen.

Mein Vater fand uns schnell eine Wohnung in Zürich – damals hielt man es gerade noch aus in der Stadt. Ich wurde eingeschult und fand mich plötzlich in einem ganz normalen Schweizer Leben wieder. Für mich war das wunderbar. Ich fand schnell Anschluss und genoss das strukturierte und aufgeräumte Leben in der Stadt. Während ich in Äthiopien viel draussen war, mich mit Jungs traf, um zu knutschen und rumzufummeln und hie und da auch mal eine Zigarette rauchte, oder Alkohol trank, entdeckte ich in Zürich das Leben meines Vaters: Sprachen, klassische Musik, Antike. Ich saugte alles auf. Mein schulischer Ehrgeiz war geweckt und ich begann mich mit meinen Mitschüler*innen zu messen, wo auch immer ich konnte. Mein Wissensdurst und mein Ehrgeiz blieben nicht unentdeckt, weshalb ich für ein höheres Gymnasium vorgeschlagen wurde, welches mir schlussendlich überhaupt ermöglichte, einer der raren Plätze für Nicht-Schweizer*innen an der ETH zu ergattern. Auf Papier war und bin ich nämlich keine Schweizerin, schliesslich hatten meine Eltern nie geheiratet und der Stempel war mir nicht wichtig genug für das rigorose Verfahren.

Meiner Mutter gelang nicht derselbe Wandel wie mir. Sie schaffte es nie, zu akzeptieren, dass ihr Lebenswerk in Äthiopien ein Ende fand. Statt Anschluss in Zürich zu finden, versuchte sie von hier aus, die Geschicke in Addis Abeba zu leiten – ein aussichtsloses Unterfangen. Sie verbrachte die meiste Zeit zuhause in unserer Wohnung. Das Essen in der Schweiz entsprach ihr nicht. Sie war es sich gewohnt, einen grossen Teil ihrer Nahrung lokal zu erhalten oder selbst herzustellen, doch in der Schweiz der 2040er Jahren wurden zahlreiche Lebensmittel bereits mit synthetischen Elementen ergänzt und ausschliesslich portioniert verkauft. Sie nahm ab, konnte nicht mehr schlafen. Auch die Beziehung zu meinem Vater verschlechterte sich. Ich hatte gehofft, dass sie in der Schweiz endlich die Beziehung aufbauen könnten, die ich mir immer erhofft hatte. Dem war nicht so. Heute weiss ich, dass meine Mutter damals in eine schwere Depression schlitterte. Lange dachte ich, sie gäbe sich keine Mühe, sie sei nicht offen genug. Dabei wog der Verlust ihrer Heimat und ihrer Arbeit einfach zu schwer. Mein Vater tat, was er konnte, aber er sah sich schlussendlich auch nicht verantwortlich für das Schicksal meiner Mutter. Er hatte damals akzeptiert, dass meine Mutter eine Fernbeziehung bevorzugte und ich vermutete jetzt, da seine Tochter endlich ein Teil seines Lebens geworden war, wollte er sich nicht stattdessen meiner Mutter widmen. Eine denkbar schlechte Voraussetzung für eine romantische Neuentdeckung ihrer Beziehung.

2050, ich war 17 Jahre alt, gab es am Gymnasium nur noch ein Thema: Resolution 19. Die UNO-Generalversammlung debattierte nun schon seit zweieinhalb Jahren die Einführung einer globalen Regulierung von Saatgut, Getreideproduktion und Primärkalorien. Der 19-Punkte-Plan sollte nicht nur bestimmen, welches Saatgut angepflanzt werden darf, sondern auch, dass die Verwendung von Getreide für die Aufzucht von Vieh als Sekundärkalorien verboten werden sollte. Zahlreiche Bewegungen gingen dagegen auf die Strasse: diejenigen, die darin einen Zwang für eine vegane Ernährung sahen, diejenigen die das Verbot von biologischer Lebensmittelherstellung zugunsten von High-yield verhindern wollten, diejenigen, die in der Annahme der UNO-Resolution eine Gefährdung der Schweizer Neutralität sahen. Meine Klasse war gespalten. Die Hälfte unterstützte die Resolution, die andere Hälfte war dagegen. Mein damaliger Freund – er war einige Jahre älter als ich und sah mit seiner Jeans, dem weissen T-Shirt und der (veganen) Lederjacke aus wie James Dean – entschied sich fürs Steinewerfen und forderte mich auf, mitzumachen. Doch ich teilte seine Meinung nicht. Ich hatte es am eigenen Leibe erlebt, wie ein Bürgerkrieg aussah und ich würde mich niemals für die Konfrontation entscheiden. Die UNO-Resolution machte in meinen Augen ohnehin Sinn und sie beinhaltete nebst Regulierungen, Gesetzen und Verboten auch eine Bandbreite von Unterstützungsleistungen: für die Forschung, für die Bildung und für die Gründung der Hub-Initiative: ein globales Netzwerk von Forschungszentren für die Erhaltung und Weiterentwicklung der wichtigsten Nutzpflanzen. Ich sah meine Zukunft in der Crop-Science und fühlte mich, als wäre ich die richtige Person, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort.

Anfänglich konnten mein James-Dean-Freund und ich über unsere unterschiedlichen Positionen hinwegsehen, so sehr lechzten wir nacheinander. Aber wir wussten beide, dass wir keine Zukunft hatten. Zu unterschiedlich sahen wir die Welt. Ich erinnere mich an eine furchtbar heisse Liebesnacht im Hochsommer – schon bald begann der Abzug der Anwohner*innen raus aus den heissen Städten – in welcher wir es so oft taten, dass uns die kostbaren Kondome ausgingen. So als wüssten wir, dass wir Sex auf Vorrat haben müssten. Er, weil er schon bald darauf ins Gefängnis kam und ich, weil ich später an der ETH keine Zeit mehr für Männergeschichten hatte. Heute schickt er mir ab und zu eine MSNGR-Anfrage, aber ich antworte nicht. James Dean wurde schliesslich nur 24.

Mein Vater sah es gerne, dass ich den Platz an der ETH antrat, der mir angeboten wurde. Wenn er hätte wünschen können, dann wäre ich zwar in die Richtung der Geisteswissenschaften gegangen, doch dort sah ich keine Zukunft. Zu meiner Überraschung, nahm es meine Mutter sehr gelassen, dass ich mich der ETH anschloss. Sie nahm zwar auch nicht an den Protesten gegen die Resolution 19 teil, aber natürlich entsprachen die jüngsten Entwicklungen überhaupt nicht ihrer Ideologie. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie sich vehement gegen die Stärkung der high-yield Varianten und gegen die weitere Technologisierung der Agronomie stellen würde. Doch stattdessen erlangte sie eine befremdliche Gleichgültigkeit. Immerhin hatte sie ihre Depression überwunden und verliess wieder das Haus, doch jetzt hielt sie sich fast nur noch in der freien Natur auf. Wohlgemerkt, die 2050er Jahre waren angebrochen und die Ozonschicht war schon jetzt kaum mehr existent. Auf Grund der veränderten Spektralzusammensetzung hatte die Chromosynthese begonnen, also der Shift der Pflanzenwelt weg von Chlorophyll hin zu Carotenoiden und damit vom altbekannten Grün, hin zu einem unheimlichen Rot. Die Welt war nicht auf sowas vorbereitet. Kulte nutzten den Wandel aus, es gab Massensuizide, es herrschte Endzeitstimmung. Kaum jemand erfreute sich ob diesem Wandel – nicht so meine Mutter.

Sie interpretierte diesen Wandel als eine Demonstration der Natur. Ein Säbelrasseln, könnte man sagen. So als würde die Natur uns ein Zeichen geben: eure Hybris wird euer Verderben sein. In ihren Augen zeigte es auf, wie mächtig die Natur und wie klein wir Menschen seien. Und damit konnte sie sich abfinden. Sie entschied sich, vollständig auf gekaufte Lebensmittel, synthetische Kalorien und Nahrungsmittelergänzungen zu verzichten und stattdessen wieder vom Boden zu leben. Agrarland war zu diesem Zeitpunkt kurz vor der Verstaatlichung und wurde mit Gold gewogen, sie brachte aber meinen Vater dazu, ihr einige Dutzend Quadratmeter zu kaufen und bewirtschaftete diese. Sie brachte mir regelmässig frische Kräuter, Knollengewächse und Bohnen an die ETH, zum grossen Staunen meiner Kommiliton*innen. Sie wollte mir die vermeintlichen Geheimnisse des Bodens vermitteln, aber ich stand mitten in meinen Studien an der ETH und hatte keine Zeit mehr für ihre Esoterik.

Ende der 2050er Jahre wurde uns allen bewusst, dass sich das Leben fundamental verändert hatte. Die Städte wurden verwaist und diejenigen, die es sich leisten konnten, zogen in die klimatisch angenehmeren Berge. Das Privatleben verschob sich vom Tag in die Nacht, weil die Exposition an der Sonne immer unerträglicher und gesundheitsgefährdender wurde. Die geschmolzenen Gletscher schufen Platz für neue Siedlungen. YD hatte auch in Europa grosse Menschenbewegungen ausgelöst. Anfänglich dachte man, dass die Migrationen schon bald ein Ende nehmen und die Menschen sich wieder niederlassen würden. Doch zehn Jahre später wurden aus den wild verstreuten Wandernden eine organisierte und kulturell geeinte Gruppierung, die sich weiterhin stur den Behörden widersetzte. Resolution 19 hatte auch nicht die Erfolge gebracht, die man sich erhofft hatte und so näherten wir uns unaufhaltbar dem Tag, an welchem die erste Nutzpflanze unwiderruflich ausgestorben sein würde.

2057, nach dem Abschluss meines Studiums an der ETH und dem Erlangen des Doktortitels, bot mir AGROGON, das Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt, eine Stelle an. Ein Jahr zuvor wurde das Institut auf Druck der Politik teilprivatisiert. So erhoffte man sich mehr Mittel. Ich wurde zunächst einem Testfeld im Oberengadin zugeteilt. Wir führten Aufträge für die Hubs, aber auch für die Privatwirtschaft aus. Wir zogen Kartoffeln, Mais, Bohnen, Zwiebeln und vereinzelte Obstsorten hoch. Mit dem Job im Engadin schlossen sich gleich zwei Kreise: mein rätoromanischer Vater konnte stolzer nicht sein, dass ich in seiner Heimat arbeitete. Und ich fand mich schliesslich auch in derselben Tätigkeit wieder, wie sie auch meine Mutter knapp 30 Jahre vor mir ausübte – einfach ohne Baby im Tragetuch. Aber nicht nur das fehlende Baby machte den Unterschied. Statt wie meine Mutter auf dem Feld zu ackern, die UNO-Generalversammlung zu unterrichten oder mit Agronom*innen zu sprechen, zog ich in einer klinischen Umgebung zarte Pflänzchen heran, damit diese genetisch manipuliert, phytophotonisch gebrütet und im Treibhaus hochgezogen werden konnten. Meiner Mutter wäre wohl der Laden runter, so technologisiert war mein Arbeitsalltag. Ich hatte aber nie die Gelegenheit, ihr meinen Arbeitsplatz zu zeigen. Kurz nach meinem Arbeitsantritt verstarb sie. Meine Mutter verbrachte trotz der hohen Strahlenbelastung seit Jahren jede freie Minute in der Natur, bis sie ihrem Brustkrebs erlag.

Die Arbeit im Oberengadin war streng, monoton und innovationslos, aber immerhin wurden wir von der Gesellschaft wie Rockstars behandelt. Schliesslich galten wir damals noch als die grosse Hoffnung für die Aufrechterhaltung der natürlichen Ernährung. Wenn wir uns ein Bier und Billiard in der Siedlung gönnten, mussten wir selten bezahlen. Diese ersten Jahre bei AGROGON waren, ziemlich wild. Ein kleines Revival meiner Zeit im Gymnasium, einfach ohne Strassenkämpfe. Tagsdurch schufteten wir im Labor, um unsere Pensen zu erfüllen und zogen gleichzeitig die eigenen Projekte gross. Alle hatten ihre persönlichen Lieblingspflanzen, an welchen sie in der Freizeit tüftelten, aber ob Kartoffeln oder Wacholder, letztlich ging es immer nur darum, aus der Ernte irgendeinen Fusel herzustellen. Hie und da entwickelte sich auch ein Techtelmächtel, aber ein James Dean ist mir nie wieder begegnet. Zwar schätze ich die intellektuelle und differenzierte Auseinandersetzung mit meinen Kollegen, aber eine solche führte ich bereits mit meinem Vater.

Nur eine flüchtige Bekanntschaft hinterliess tiefere Spuren bei mir. An einem Neujahrsfest feierten wir einen Maskenball mit einigen weiteren Mitarbeiter*innen aus der Region. Ich trank zu viel und stritt mich irgendwann mit der vorlauten Barkeeperin. Ein mysteriöser Gast versuchte zu beschwichtigen und zog mich irgendwann weg. Er schlug vor, etwas frische Luft zu schnappen. Wer weiss, vielleicht sähen wir ja sogar eine Sternschnuppe, meinte er. Eine komische Bemerkung, sind doch die meisten Sternschnuppen fallende Satelliten – ein Symbol für den Niedergang unseres Fortschritts. Seine kräftigen Arme, die mir beim Laufen halfen, machten den leicht säuerlichen Schweissgeruch wieder gut und draussen angekommen überraschte ich mich selbst, indem ich ihn ungefragt küsste. Der Mann erwiderte meine Avancen. Ich wünschte, wir hätten als nächstes unsere Masken abgezogen, doch stattdessen übergab ich mich in die Büsche neben der Bar.

AGROGON verlängerte meinen Vertrag anfänglich jeweils mit Handkuss und ich war motiviert, weiterzuarbeiten, um meinen Beitrag zur Erhaltung der Nutzpflanzen zu leisten. Doch mit jedem weiteren Jahr wuchsen die Anforderungen und die Mittel nahmen gleichzeitig ab. Unser Auftrag wurde immer ökonomisierter und der Einfluss auswärtiger Players nahm merklich zu. Auf einmal sollten wir uns ausschliesslich auf InVitro, Aeroponik und Hydroponik konzentrieren und die Feldversuche vollständig sein lassen. Der Anteil der Bioinformatik nahm zu und die Handarbeit galt auf einmal als überholt. Es schien mir auf einmal, als hätte ich nur noch die Gestur meines bionetischen Computers in der Hand. Meine Kolleg*innen fielen diese Entwicklungen nicht negativ auf. Die wenigsten von ihnen hatten jemals etwas anderes erlebt als plastifizierte Bäume, virtuelle Ferien und synthetisierte Lebensmittel. Plötzlich kamen Erinnerungen an meine Heimat in mir hoch. Meine Hände, die in der ockerfarbenen Erde eines Feldes nach Regenwürmer suchen. Die Schärfe einer echten Zwiebel. Das blütenweisse Netela meiner Mutter aus echter Baumwolle. Manchmal, wenn ich schlaflos im Bett lag und der Geruch des sauren Regens, der auf dem heissen Asphalt verdampfte durch das offene Fenster eindrang, versuchte ich mir vorzustellen, wie es sein würde, in Äthiopien zu sein und die Arbeit meiner Mutter mithilfe der neusten Technologie wieder aufzunehmen. Aber dafür war es nun zu spät.

2062 schliesslich wurden wir beauftragt (oder sollte ich sagen, gezwungen) für das 100-jährige Jubiläum des Eurovision Song Contest Blumen herzustellen. Die zierlichen Blütenpflanzen kosteten ein Vermögen und würden keinen Tag länger als das Sendedatum überleben, aber für die grösste Show des Jahres war den Organisatoren kein Aufwand zu gross. Unabhängig wie unangemessen mir diese Ablenkung von meiner Forschung erschien, die Schönheit der Blumen war atemberaubend. Aber dann schlug es bei mir ein wie eine Bombe: die Blumen blühten zwar, aber sie rochen nicht mehr.

Hatte meine Mutter recht? Haben wir uns von der Natur entfremdet? Wir haben die Nutzpflanzen so lange nach unseren Vorstellungen und Wünschen geformt, dass sie nicht mehr wiedererkennbar sind. Kein Wunder, gehen sie zugrunde. Aber dennoch: Die Synthetisierung, die Digitalisierung, die Technologisierung, die Objektivierung der Natur wird uns zur Lösung führen. Wir sprechen vielleicht nicht mehr die Sprache der Natur, aber deshalb werden wir als Menschheit nicht untergehen. Die Chromosynthese hatte die Wissenschaft überrascht und entzieht sich immer noch einer eindeutigen Erklärung. Fakt ist: wir leben nicht mehr auf einem grünen Planeten, sondern auf einem roten. Der Hunger in der Welt nimmt immer noch zu und die Erwartungen, an die Hubs, dass sie eine Lösung für die Nutzpflanzenkrise finden, steigt ins Unermessliche. Es ist jetzt höchste Zeit, dass ich meine einzigartigen Fähigkeiten dort anwende, wo ich die grösste Wirkung entfalten kann. Ich setzte mich deshalb bei AGROGON dafür ein, mich für die Position der Crop-Scientist für Project Solanum zu besetzen.